"Sperrt das DESY zu!"

Im Wochenmagazin "DER SPIEGEL" vom 1.11.99 ist unter der Rubrik "Debatte" ein Artikel mit der Überschrift "Sperrt das DESY zu!" erschienen. Es handelt sich um die Meinungsäußerung eines einzelnen Teilchenphysikers. Herr Graßmann kennt DESY nach eigener Aussage von einem achtwöchigen Praktikum als Physikstudent.

Vor einigen Jahren bewarb er sich erfolglos als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem HERA-Experiment. Im folgenden nimmt DESY nur zu den Äußerungen von Herrn Graßmann Stellung, ohne auf die Fülle der weiteren HERA-Resultate und die Forschungen mit Synchrotronstrahlung einzugehen.

Zu den gegen DESY gerichteten Behauptungen:


DESY verschlingt jedes Jahr 250 Mio DM und liefert nur bedeutungslose und langweilige Ergebnisse:

Die Praxis beweist das Gegenteil: Die Zahl der Gastwissenschaftler ist in den vergangenen Jahren ständig gestiegen, 1998 forschten 3400 aus 35 Ländern am DESY, davon 1200 Teilchenphysiker. Diese Wissenschaftler könnten sich auch andere Beschleuniger auswählen. Dass sie zu DESY kommen, ist ein eindeutiger Qualitätsbeweis für DESYs Forschungsprogramm. Bei der Gestaltung und Durchführung des Forschungs-programms wird das DESY-Direktorium von international besetzten Gremien beraten und begutachtet. Der Beschleuniger HERA wurde zu 22% durch Beiträge aus dem Ausland finanziert, die HERA-Experimente zu mehr als 50%.


DESY schottet sich von der Allgemeinheit ab und informiert die Laien nicht - "verkauft die Laien für dumm":

Beim letzten Tag der offenen Tür kamen 14.000 Besucherinnen und Besucher zu DESY, jedes Jahr besichtigen über 400 Gruppen DESY, Schulklassen nutzen in großer Zahl ein spezielles Experimentierprogramm. DESY ist von einer Bundesjury als eines der Weltweiten Projekte der EXPO 2000 ausgewählt worden und bereitet dafür seit über einem Jahr eine 1200 qm große Ausstellung über sein Forschungsprogramm vor.


Vor drei Jahren habe man bei DESY angeblich "neue Physik" gefunden und diese damals mit dem Namen "Leptoquark-Teilchen" benannt:

Im Februar 1997 zeigten sich bei HERA Hinweise auf wichtige neue Ergebnisse, mit vier möglichen Erklärungen: Drei Möglichkeiten sind neue physikalische Erscheinungsformen, die zu einer Änderung des physikalischen Bildes unserer Welt führen würden, eine davon setzt die Existenz von Leptoquark-Teilchen voraus. Die vierte Möglichkeit ist, dass es sich nur um sogenannte statistische Ausreißer handelt, reinen Zufall also. (Dies wurde in allen Zeitungsartikeln völlig korrekt berichtet. Die New York Times schrieb z.B.: "Surprising New Particle Appears, or on the Other Hand, Maybe Not", sinngemäß: "Überraschend zeigt sich ein neues Teilchen am Horizont - oder vielleicht auch nicht".) Um hier zu genaueren Aussagen zu kommen, brauchen die HERA-Physiker eine wesentlich größere Datenmenge. Der seit langem für das kommende Jahr geplante Ausbau von HERA wird es ermöglichen, diesen Effekt mit höherer Statistik zu messen.


Bei DESY (gemeint ist HERA) wird die Strukturfunktion des Protons untersucht, allerdings mit einer Messgenauigkeit, die weder für die Physiker noch für den Rest der Welt "irgendeine Bedeutung" hat:

Das Elektronenmikroskop HERA zeichnet sich durch hohe Energien und großes räumliches Auflösungsvermögen (1/1000 des Proton-Durchmessers) aus. Die Anlage ist weltweit einzigartig. Bisher wusste man, dass das Proton im wesentlichen aus drei Quarks besteht, die durch Gluonen zusammengehalten werden. HERA konnte zeigen, dass das Proton wesentlich komplexer ist und in seinem Verhalten von sehr vielen Quarks und Gluonen sehr kleiner Energie bestimmt wird, die ständig neu erzeugt und vernichtet werden. Diese Beobachtung und die genauen Messwerte führen direkt zu einem besseren Verständnis einer der vier fundamentalen Kräfte der Natur, der starken Kraft, und sind für die Interpretation der Messungen an anderen Beschleunigern, wie dem Tevatron in den USA und dem im Bau befindlichen LHC beim CERN in Genf von entscheidender Bedeutung.


Bei DESY (gemeint ist HERA) wird das Pomeron untersucht, an das heutzutage niemand mehr glaubt:

Bisher hat man nicht verstanden, wie sich im Rahmen der Theorie der starken Kraft Prozesse wie die elastische Streuung von Hadronen erklären lassen. Bereits vor mehr als 30 Jahren hat man dazu ein hypothetisches Teilchen mit dem Namen Pomeron eingeführt. Dank der hohen Energie und Präzision von HERA kann man diese Hypothese nun quantitativ überprüfen. Dabei kristallisiert sich heraus, dass das Pomeron kein Teilchen ist und dass der Streuprozess durch das kollektive Zusammenwirken der im Proton zahlreich vorhandenen Quarks und Gluonen im Rahmen der starken Kraft erklärt werden kann.


"HERA-B dümpelt ... so vor sich hin, alle Zeitpläne grotesk überschritten, sämtliche Finanzrahmen gesprengt". Die mit HERA-B möglichen Messungen können genau so gut von anderen Experimenten gemacht werden:

HERA-B wurde im Februar 1995 genehmigt und ist ein technisch höchst anspruchsvolles Experiment, für das es kein Vorbild gibt. Mit ihm wird nach besonderen Zerfällen der B-Mesonen gesucht, die ihrerseits nur sehr selten auftreten. Das Experiment nutzt die Protonen in HERA, so dass im Gegensatz zu zwei anderen Experimenten in Japan und den USA zusätzlich zum Detektor keine neuen Beschleuniger gebaut werden mussten.

Wer Neues tun will, muss die ausgetretenen Wege verlassen. Dies birgt Risiken. Das Risiko von HERA-B lag in der hohen Zahl geladener Teilchen, die das Experiment aufzeichnen muss, um den gesuchten Effekt zu sehen. Trotz umfangreicher Tests in der Vorbereitungsphase traten bei Inbetriebnahme bis dahin unbekannte technische Probleme auf, die durch Modifikation des ursprünglichen Konzepts beseitigt werden konnten. Im Vergleich zu dem ursprünglichen Zeitplan hat dies zu einer Verzögerung von einem Jahr geführt. HERA-B wird Anfang 2000 mit der Datennahme beginnen. Die aus den Modifikationen resultierenden Kostenerhöhungen konnten durch Einsparungen an anderer Stelle ausgeglichen werden. Das im Artikel zitierte amerikanische Experiment, an dem übrigens Herr Graßmann beteiligt ist und das HERA-B die Show gestohlen haben soll, hat zwar ein Messergebnis vorgelegt, aber mit einer Unsicherheit, die keine entscheidenden physikalischen Schlüsse zulässt.

Zu einigen anderen Behauptungen:


"In Deutschland ist die Zahl der Studienanfänger im Fach Physik in den letzten Jahren um die Hälfte gefallen. Und das ist gut so. ... So gesehen bin ich (Herr Graßmann) froh, dass keiner mehr Physik studiert. ... Das ist die einzige Hoffnung, die es noch gibt für die Physik.":

Es stimmt, dass die Zahl der Studienanfänger im Fach Physik in den letzten Jahren auf die Hälfte gesunken ist. Allerdings ist unmittelbar zuvor, in den Jahren 1985 bis 1990, die Zahl der Studienanfänger in Physik um den gleichen Faktor gestiegen. Trotzdem ist der Rückgang an Studenten sehr beunruhigend, da die physikalischen Methoden wesentliche Grundlagen für alle Naturwissenschaften und für die Technik bilden. Damit sind sie eine Voraussetzung für Deutschlands Zukunft als Industrienation. Universitäten und Forschungseinrichtungen, und natürlich auch DESY, unternehmen große Anstrengungen der Allgemeinheit, besonders auch Lehrern und Schülern naturwissenschaftliche Forschung nahe zu bringen, um diesen Trend umzukehren.


Zur Behauptung, die Chaostheorie gibt es gar nicht und Wissenschaft kann ohne Mathematik verstanden werden:

Die Chaostheorie beschreibt die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die in den verschiedensten Gebieten auftreten - von physikalischen, technischen und biologischen bis zu sozialen Fragestellungen und Börsenkursen.

Die Bedeutung der theoretisch-mathematischen Methoden wurde Mitte Oktober durch die Verleihung des Nobelpreises an die Physiker t'Hooft und Veltmann unterstrichen. In enger Verbindung mit präzisen Messungen sind durch die Mathematik Physik und Technik entstanden. Jeder Physiker weiß, dass Kepler seine Gesetze der Planetenbahnen, durch die das heliozentrische Weltbild endgültig etabliert wurde, nur Dank der äußerst peniblen Messungen ("Zahlenkolonnen") des Astronomen Tycho Brahe sowie durch sorgfältige mathematische Untersuchungen entdecken konnte. Newton fand die Gesetze der Mechanik unter Benutzung der Erkenntnisse Keplers - wozu er eine neue, für die meisten Menschen damals unverständliche Mathematik entwickeln musste, die Differentialrechnung. Erst mit der Erkenntnis des Wertes präziser Messungen und mathematischer Beschreibungen wurde die Physik eine Wissenschaft.

DESY wird in dieser Diskussion wie stets den Medien die gewünschte sachliche Information bereitstellen.

DESY, Deutsches Elektronen-Synchrotron, 22603 Hamburg, 1. November 1999
desyinfo@desy.de