18.11.2011

Es wird enger für das Higgs-Boson

Bislang größte Fahndung mit der „Weltmaschine“ LHC

Forscher am weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC bei Genf haben die bislang umfangreichste Suche nach dem Higgs-Teilchen vorgelegt, dem letzten fehlenden Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik. Erstmals kombinierten dazu die Teams der beiden großen Nachweisgeräte ATLAS und CMS ihre Daten. Die „Weltmaschine“ LHC ist demnach auf bestem Weg, das Higgs-Rätsel bis zum Ende des kommenden Jahres zu knacken, wie die Physiker am Freitag auf dem Hadron Collider Physics Symposium 2011 in Paris berichteten. Einen weiten Fahndungsbereich hat die jetzt präsentierte Analyse bereits ausgeschlossen: Die Auswertung von bis zu 160 000 Milliarden Teilchenkollisionen erbrachte darin keinen Hinweis auf das schwer zu fassende Higgs-Boson.

Peter Higgs besucht den CMS-Detektor. Foto: CERN

Die Suche nach dem Higgs-Teilchen gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Large Hadron Colliders (LHC) am europäischen Teilchenforschungszentrum CERN. Es gilt als letztes Puzzlestück im etablierten Standardmodell vom Aufbau der Materie, weil sich ohne den Higgs-Mechanismus in diesem Modell die Masse der anderen Teilchen nicht erklären lässt. Das Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg und Zeuthen ist am Betrieb und der Datenauswertung der LHC-Detektoren beteiligt und verfügt über Kontrollräume für den CMS- und den ATLAS-Detektor am LHC.

„Das Fenster für das Higgs schließt sich“, erläutert Prof. Joachim Mnich, DESY-Forschungsdirektor für Teilchenphysik und Mitglied des CMS-Teams. „Das ist nichts Überraschendes. Offen bleibt der Bereich, indem wir es ohnehin stets vermutet haben.“ Der bisher noch offene Bereich für das Higgs ist durch die Experimente am LHC am schwierigsten zu erschließen – hier müssen erst weitere Daten genommen werden, um belastbare Aussagen zu machen. Bis Ende 2012 erwarten die Physiker Klarheit darüber, ob das Higgs-Teilchen existiert. Gegenüber der jetzigen Analyse verfügen die Detektoren bereits über das Vielfache an Daten. Bis Ende nächsten Jahres wird sich die Datenmenge nochmals verdoppeln.

Bahnbrechende Ergebnisse sind nahezu garantiert: „Der Fund des Higgs-Teilchens wäre eine Entdeckung, sein Ausschluss wäre jedoch eine Revolution“, betont Mnich. Denn sollten die Physiker kein Higgs finden, wäre das ein Hinweis auf eine bislang unentdeckte Physik, die den Teilchen ihre Masse verleiht. „Das Higgs-Teilchen ist sozusagen der Schlussstein des Standardmodells“, erläutert DESY-Physiker Thomas Naumann aus dem ATLAS-Team. „Wenn ich den herausziehe, bricht das ganze Gebäude zusammen.“

Für die Fahndung nach dem Higgs-Teilchen schießt der LHC nahezu lichtschnelle Wasserstoff-Atomkerne mit zuvor unerreichter Energie aufeinander. Aus der geballten Energie der Kollision entsteht ein Regen von Folgeteilchen. In weniger als einem Milliardstel der Fälle ist dem Standardmodell zufolge darunter auch ein Higgs-Teilchen. Das lässt sich jedoch nicht direkt nachweisen, sondern nur über seine Zerfallsprodukte. Da es je nach seiner Masse in ganz unterschiedliche andere Teilchen zerfallen kann, ist die Suche sehr aufwendig.

Physiker geben die Masse von Teilchen häufig nach Albert Einsteins berühmter Formel E=mc2 als Energieäquivalent an, die übliche Einheit ist dabei das Elektronenvolt (eV).  Im Bereich zwischen 145 und 470 Giga-Elektronenvolt (GeV) haben die Forscher die Existenz des Higgs-Teilchens nun ausgeschlossen. Frühere Beschleuniger hatten den Bereich bis 114,4 GeV bereits abgesucht. In einem Fenster zwischen 114 und 145 GeV könnte sich das Higgs noch verstecken. Die Fahndung hat damit einen wesentlichen Bereich bereits abgegrast. Oberhalb des jetzt bestimmten Ausschlussbereichs ist die Existenz des Standardmodell-Higgs sehr unwahrscheinlich.

Die jetzt vorgelegte Datenanalyse hat Mnich zufolge noch eine weitere Bedeutung: „Die Detektoren haben gezeigt, dass sie so empfindlich sind, wie wir erwartet haben“, unterstreicht der Physiker. Auch daher sind die Forscher zuversichtlich, im kommenden Jahr eindeutige Fahndungsergebnisse vorlegen zu können.

Hintergrund:

Das Higgs-Teilchen ist nach dem inzwischen emeritierten schottischen Physiker Peter Higgs benannt. Er und andere Physiker ersannen 1964 einen Trick, der eine fundamentale Schwäche des ansonsten überragend erfolgreichen Standardmodells vom Aufbau der Materie ausbügeln sollte: Das über Jahrzehnte errichtete Theoriegebäude erlaubt nur masselose Austauschteilchen wie das Photon. Um auch massive Austauschteilchen wie die W- und Z-Bosonen der schwachen Wechselwirkung beschreiben zu können, führte Peter Higgs das nach ihm benannte Feld ein. Das Higgs-Feld durchzieht das Universum wie ein Sirup, wechselwirkt unterschiedlich stark mit den Elementarteilchen, bremst sie und verleiht ihnen so ihre Masse. So wie das Photon eine Anregung des elektromagnetischen Feldes ist, sind die gesuchten Higgs-Teilchen Anregungen des Higgs-Feldes – quasi Klumpen im Sirup.