13.07.2012

Teilchenphysiker untersuchen das Rätsel der Hadronisierung

HERMES-Experiment gibt Aufschluss über Hadronenbildung in Atomkernen

Gewöhnliche Materie – so auch wir Menschen – besteht aus drei Teilchen:  Protonen, Neutronen und Elektronen. Protonen und Neutronen verbinden sich in Atomen zu einem Kern, der von einer Elektronenwolke umkreist wird. Im Gegensatz zu Elektronen, die zu den Elementarteilchen gehören und nicht in noch kleinere Teilchen zerlegt werden können, sind Protonen und Neutronen aus Quarks zusammengesetzt. Quarks treten niemals alleine, sondern immer nur in Gruppen auf, als sogenannten Hadronen. Neueste Erkenntnisse der internationalen HERMES-Kollaboration geben Aufschluss über den Hadronisierungsprozess von Quarks. Die Arbeit wurde in „The European Physics Journal“ veröffentlicht und erschien auch im gerade veröffentlichten DESY Jahresbericht „Particle Physics 2011“.

Darstellung der Hadronisierung in Kernen (Bild: Joshua Rubin).

Mit Daten aus dem DESY-Teilchenbeschleuniger HERA analysierten die Forscher Hadronen, die durch den Beschuss von verschiedenen Edelgas-Targets mit HERAs starkem Elektronen- oder Positronenstrahl entstanden sind. Die Ergebnisse dieser Experimente ermöglichen eine Weiterentwicklung der existierenden Modelle der Bildung von Hadronen, der so genannten Hadronisierung. Quarks sollen sich kurz nach dem Urknall frei bewegt haben, somit werden die Erkenntnisse über Hadronisierung auch das Wissen über die Anfangsphase unseres Universums vertiefen.

Die Wechselwirkung von Quarks und Gluonen, die die Quarks zu Hadronen „zusammenkleben“, wird in der Theorie der Quantenchromodynamik (QCD) beschrieben. Allerdings wird die Bildung von Hadronen aus Quarks noch immer nicht im Detail verstanden. „Auch heute ist die Hadronisierung aus den ersten Prinzipien der QCD nicht berechenbar“, sagt HERMES-Forscher Gunar Schnell, Teilchenphysiker bei DESY und an der Baskischen Universität Bilbao, Spanien. „Keines der existierenden Modelle kann alle Aspekte der Hadronisierung beschreiben.“ Neueste Ergebnisse aus dem HERMES-Experiment versprechen jedoch eine Weiterentwicklung dieser Modelle.

Die Forscher haben jetzt die Entstehung von sechs verschiedenen Hadronenarten im HERMES-Experiment untersucht. Von 1995 bis 2007 war HERMES eines der vier Experimente an DESYs größtem Teilchenbeschleuniger HERA. Es hat eine Flut von Daten produziert, deren Analyse bis heute andauert. Die Wissenschaftler haben bei HERMES Gastargets der Edelgase Neon, Krypton und Xenon in den HERA Elektronenstrahl (oder Positronenstrahl) eingebracht. Die mit fast Lichtgeschwindigkeit fliegenden Elektronen dringen in die Atomkerne im Target ein und wechselwirken mit den Quarks der Protonen und Neutronen im Kern. „Wenn dabei ein Quark herausgeschleudert wird, bildet sich ein Hadron“, sagt Schnell. „Das Quark selbst wird nicht beobachtet.“

Die Kerne im Edelgas-Target sind so groß, dass sich die Hadronen (teilweise) innerhalb des Kerns bilden. „Früher basierten alle Untersuchungen zur Hadronisierung auf Elektron-Positron-Kollisionen im Vakuum“, sagt Schnell. „In einem Kern ist die Situation ganz anders, vergleichbar mit dem Flug durch einen Asteroidengürtel. Wenn das sich bildende Hadron dem Kern entweicht, kann es mit anderen Teilchen wechselwirken.“

Die Umgebung des Kerns ermöglichte den HERMES-Wissenschaftlern, die Länge und den zeitlichen Verlauf der Hadronisierung zu untersuchen. Ein Beispiel ist die Verminderung von Hadronen. Wenn der Targetkern größer wird, wird auch die Wechselwirkung der sich bildenden Hadronen im Kern stärker. Ein schwererer Kern behindert die Entstehung eines Hadrons und schwächt sie damit ab. 

Für die Entstehung von Protonen beobachteten die HERMES-Forscher allerdings einen völlig anderen Verlauf. Wenn die Energie innerhalb des Kerns hoch ist, erhöht sich die Anzahl der dem Kern entweichenden langsamen Protonen mit der Größe des Targets anstatt sich zu vermindern. „Wenn genug Energie übertragen wird, ist die Hadronenbildung nicht der einzige Prozess. Überschüssige Energie kann ein weiteres Proton herausschleudern, das bereits im Kern vorhanden war“, sagt Schnell. „Während vergangene Untersuchungen nur eine gestiegene Anzahl an langsamen Protonen andeuten, bestätigen die jetzigen Ergebnisse ganz klar einen Überschuss dieser Protonen im Gegensatz zu den schnellen, die in ähnlicher Weise abgeschwächt werden wie die übrigen untersuchten Hadronen.“

Mit den neuen Ergebnissen werden die Forscher die bestehenden Modelle der Hadronenbildung weiterentwickeln. Insbesondere hoffen sie auf neue Erkenntnisse über die Zeit- und Längenskalen der Hadronenbildung. Darüber hinaus werden die HERMES-Ergebnisse die Forschung am weltweit größten Beschleuniger, dem Large Hadron Collider LHC, unterstützen. „Im ALICE-Experiment am LHC  wird Hadronisierung bei etwa eintausend mal höheren Energien beobachtet werden“, betont Schnell. „Wir sind gespannt, ob unsere niederenergetischen Modelle bei wesentlich höheren Energien immer noch Gültigkeit haben.“

Die Bedeutung der neuen Ergebnisse geht möglicherweise über irdische Experimente hinaus. In der ersten Millionstel Sekunde nach dem Urknall war unser Universum so heiß, dass es ungebundene Quarks gegeben haben muss. In der Phase der Abkühlung und Expansion des frühen Universums haben sich Quarks zu Hadronen verbunden. So ist die Erforschung der Hadronisierung auch eine Reise weit zurück in die Vergangenheit.

Weitere Informationen: DESY Particle Physics 2011 Report (Englisch)