05.10.2012

Forscher testen Stabilität von Naturkautschuk

PETRA III zeigt Verhalten von Kautschuk unter Spannung auf sehr kurzen Zeitskalen

Forscher des Leibniz-Instituts für Polymerforschung Dresden, der Technischen Universität Dresden und DESY haben mit Hilfe der Röntgenquelle PETRA III Strukturveränderungen von Naturkautschuk unter Spannung untersucht. Die Wissenschaftler haben diese Veränderungen bei einer bisher noch nie dagewesenen Zeitauflösung von 7 Millisekunden verfolgt, das entspricht mehr als 140 Einzelbildern pro Sekunde. Ein Großteil der Kautschukproduktion geht in die Herstellung von Autoreifen, die hohen Belastungen standhalten müssen; deshalb sind diese Forschungsergebnisse besonders für die internationale Reifenindustrie von Interesse. Die Untersuchung wurde vor kurzem in der Zeitschrift „Macromolecules“ veröffentlicht (DOI: 10.1021/ma3011476).

Streubild von dehnungskristallisiertem Naturkautschuk.

Der durch Anritzen der Gummibaumrinde gewonnene Naturkautschuk wird für technische Zwecke und in der Herstellung von Produkten verwendet. Kautschuk ist flexibel, elastisch und wasserdicht. Es besteht hauptsächlich aus langen Ketten der organischen Verbindung Isopren. Die Vernetzung dieser Ketten durch „Vulkanisation“ und der Zusatz von Kieselsäure oder Ruß macht das Gummi widerstandsfähiger und besser geeignet für harte Beanspruchung. „Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es in der Forschung Versuche gegeben, synthetische Alternativen zum Naturkautschuk herzustellen“, sagt Karsten Brüning, Wissenschaftler an beiden Dresdner Instituten. „Aber bis heute ist Naturkautschuk mit Füllstoffen immer noch die erste Wahl für stark beanspruchte Materialien, zum Beispiel für LKW-Reifen.“

Ein Grund für die Festigkeit von Naturkautschuk ist die „spannungsinduzierte Kristallisation“. Ohne Spannung haben die Polyisoprenketten des Gummis keine periodische Ordnung über größere Längen. Sobald das Material unter Spannung gesetzt wird, bilden die Ketten eine periodische kristalline Struktur. Durch diese Umwandlung erhöht sich die Festigkeit des Materials. „Stellen Sie sich vor, es steckt ein Nagel oder ein Kieselstein in ihrem Reifen. Der Schaden, ein kleiner Riss, bewirkt eine lokale Spannung im Gummi“, sagt Brüning. „Die spannungsinduzierte Kristallisation führt dazu, dass sich das Material an dieser Stelle selbst verstärkt, so wird ein Ausbreiten des Schadens verhindert.“

Brüning und seine Kollegen haben die spannungsinduzierte Kristallisation von Naturkautschuk mit Hilfe der Röntgenweitwinkelstreuung (WAXD) untersucht. An der PETRA III-Mikro- und Nanofokus-Strahlführung (MiNaXS) wurden die Kautschukproben mit intensivem Röntgenlicht bestrahlt und die Intensitätsverteilung des gestreuten Röntgenlichts hinter der Probe aufgezeichnet. Unter Spannung ergaben sich Änderungen im Streumuster und eine Erhöhung der Intensitätswerte, die auf die Bildung von Kristalliten in der Kautschukprobe hinweisen.

Die Spannungsreaktion von Naturkautschuk wurde bereits in der Vergangenheit untersucht, aber keine der bisherigen Studien ermöglichte einen Blick auf die Vorgänge in „Echtzeit“. „Um gute Signale bei einer Zeitauflösung von Millisekunden zu bekommen ist es wichtig, sehr intensive Röntgenstrahlen zu haben, die in einem kleinen und parallelen Strahl gebündelt sind“, erklärt DESY-Wissenschaftler Stephan Roth. „Die  MiNaXS-Strahlführung ist eine der wenigen auf der Welt, mit der man diese Art von Experimenten durchführen kann.“

Das Forscherteam führte zwei Arten von Belastungstests durch. Im ersten Experiment beobachteten sie den Kristallisationsgrad in Kautschukproben, während sie diese periodisch einer minimalen und maximalen Spannung aussetzten. Eine Periode dauerte etwa eine Sekunde. „Ähnliche Testmethoden werden zur Untersuchung der Abnutzung von Reifen verwendet“, sagt Brüning. Die maximale Kristallinität im Gummi war bei periodischer Spannung geringer als bei statischer Spannung der gleichen Stärke. Weil genau diese Kristallinität einen verstärkenden Effekt hat, kann es sein, dass die Festigkeit des Materials bei Tests unter statischen Bedingungen zu hoch eingeschätzt wird.

Die Forscher haben auch nachgewiesen, dass der stabilisierende Effekt der Kristallisation in Naturkautschuk mit der minimalen Spannung in dem periodischen Experiment ansteigt. „Dieses Ergebnis klingt irgendwie paradox“, bemerkt Brüning. „Der Widerstand des Materials gegen die Ausbreitung von Rissen ist schwächer, wenn das Material unter geringerer Spannung steht.“ Dieses Phänomen war bereits empirisch bekannt, aber die jetzige Untersuchung zeigt, dass dies durch die spannungsinduzierte Kristallisation verursacht wird.

In der zweiten Anordnung haben die Wissenschaftler die Kautschukproben nur ein einziges Mal in weniger als zehn Millisekunden unter Spannung gesetzt und danach den Aufbau von Kristallinität in der Probe eine Minute lang analysiert. Die Daten deuten darauf hin, dass der Kristallisationsprozess in zwei Etappen geschieht: In der ersten Phase bilden sich schnell Kristallisationskerne, in der zweiten folgt das langsame Wachstum von Kristallen.

„Zurzeit gibt es kein allgemein akzeptiertes Modell für spannungsinduzierte Kristallisation“, sagt Brüning. „Unsere Untersuchungen sollen die Mechanismen dieser Phasenübergänge klären, um im Detail zu verstehen, wie die molekularen Eigenschaften von Naturkautschuk dessen mechanisches Verhalten beeinflussen.“ Die Forscher planen weitere Studien mit natürlichen und synthetischen Materialien sowie die Untersuchung von schnellen Prozessen wie die Ausbreitung von Rissen. „Wir sollten in wenigen Jahren in der Lage sein, die Ausbreitung von Rissen in Materialien direkt experimentell zu beobachten“, sagt Roth.

 

Originalveröffentlichung

Karsten Brüning, Konrad Schneider, Stephan V. Roth und Gert Heinrich, Kinetics of Strain-Induced Crystallization in Natural Rubber Studied by WAXD: Dynamic and Impact Tensile Experiments, Macromolecules (DOI: 10.1021/ma3011476).