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Die Entdeckung des Gluons – eine Zeitreise in die 70er
Die Entdeckung des Gluons – eine Zeitreise in die 70er
Wir schreiben das Jahr 1979. Die Teilchenphysik ist ein junges Forschungsfeld, noch immer dabei, sich von der Kernphysik zu emanzipieren. Das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik gewinnt gerade mehr Akzeptanz und Bedeutung, hat sich aber nach wie vor nicht unumstritten etablieren können. Es sieht vor, dass alle Materie des Universums sich aus nur 12 Elementarteilchen zusammensetzt, sechs Quarks und sechs Leptonen. Vier Grundkräfte sollen zwischen ihnen wirken, von denen das (heutige) Standardmodell drei beschreibt: die zwischen den Quarks wirkende Starke Kraft, die Schwache und die Elektromagnetische Kraft – einzig die (sehr viel schwächere) Schwerkraft oder Gravitation bleibt außen vor.
Fünf der sechs Quarks, aus denen Teilchen namens Hadronen bestehen, waren bereits experimentell nachgewiesen worden, das jüngste war 1977 das bottom- oder beauty-Quark. Doch insbesondere die Kräfte bescheren den Teilchenphysikern noch Kopfzerbrechen: Auch diese sollten laut Standardmodell von Teilchen – sogenannten Austauschbosonen – übertragen werden. Doch bisher war das einzige Kraftteilchen, dass man gefunden hatte, das Photon. Es überträgt die elektromagnetische Kraft wie Licht, elektrische oder Magnetkräfte. Seit seiner Entdeckung waren jetzt schon über 50 Jahre vergangen …
Große Hoffnung setzte man daher in zwei neue, leistungsfähige Teilchenbeschleuniger, die gerade im Bau beziehungsweise frisch angelaufen waren: das Positron Electron Project PEP am Stanford Linear Accelerator Center SLAC in Kalifornien und die Positron-Elektron-Tandem-Ring-Anlage PETRA bei DESY. Mit ihnen, so die Hoffnung, sollte man endlich den Beleg dafür finden, dass sich auch die anderen Kräfte mit dem Austausch virtueller Teilchen erklären ließe.
Während man 1979 an PEP noch baute, konnte das DESY-Beschleunigerteam in PETRA bereits Mitte 1978 den ersten Elektronenstrahl speichern. Damit war der Beschleuniger über ein Jahr früher fertig als ursprünglich geplant, und das nach nur gut zweieinhalb Jahren Bauzeit. Dass es so gekommen war, war einer exzellenten und hochmotivierten Baumannschaft, hauptsächlich aber Projektleiter Gustav-Adolf Voss zuzuschreiben, der seine schlagkräftige Projektgruppe mit außergewöhnlichen Ideen und wagemutigen Entscheidungen führte. Um den Wettlauf mit dem konkurrierenden Beschleuniger in USA zu gewinnen, vergab er beispielsweise die Fertigung der Eisenjoche für die Ablenkmagnete an eine Firma, die bis dahin Kühlschrankgehäuse gebaut hatte. Sie hatte bis dahin noch nie etwas mit dem Bau von Teilchenbeschleunigern zu tun gehabt, konnte aber schnell und günstig liefern. Projektbesprechungen fanden der Legende nach sonntags statt, damit die Leute die Zeit an den Wochentagen zur Arbeit nutzen konnten.
Für die Teilchendetektoren, die die Elektron-Positron-Kollisionen vermessen sollten, hatten sich insgesamt fünf internationale Kollaborationen zusammengefunden. Sie wollten die Detektoren CELLO, JADE, MARK J, PLUTO und TASSO bauen. DESY war zwar an allen Kollaborationen beteiligt, verzichtete aber entgegen der bis dahin geltenden Gepflogenheiten darauf, eine bestimmende Rolle innerhalb der Teams einzunehmen. Stattdessen wählten sich die beteiligten Institute jeweils einen Kollaborationssprecher, der das Team nach außen und gegenüber dem gastgebenden Institut vertrat – eine Organisationsform, die Schule machte und später von der gesamten Teilchenphysik übernommen wurde. Da es an PETRA nur vier Plätze für solche Teilchenkameras gab, sollte PLUTO, der schon vorher am DORIS-Beschleuniger gestanden hatte, nur zu Beginn des PETRA-Betriebs Daten nehmen, und dann gegen denjenigen der anderen vier Detektoren, der zuletzt fertig geworden war, ausgetauscht werden.
Nachdem im Juli 1978 der erste Elektronenstrahl in PETRA gespeichert worden war, wurden im September des Jahres die ersten Elektron-Positron-Kollisionen beobachtet. Im Januar 1979 begann der Experimentierbetrieb an den Detektoren MARK J, PLUTO und TASSO. Der vierte Detektor JADE hatte beim Probebetrieb einen Schaden erlitten und sollte erst im Frühsommer 79 wieder Daten sammeln können.
Der Beschleuniger lief zuerst mit geringer Kollisionsenergie von 13 Giga-Elektronenvolt (GeV) an und wurde zuerst auf 17, im Frühjahr 1979 auf 27 GeV erhöht. Erwartungsvoll durchsuchten die Experimentatoren ihre ersten Daten und bestätigten einige Vorhersagen des Quarkmodells. Doch die Suche nach dem Gluon schwebte von Anfang an in den Hinterköpfen aller Beteiligten. Indirekte Hinweise, dass solch ein Klebeteilchen existieren könnte, hatte es schon in vorherigen Experimenten gegeben; direkt nachgewiesen hatte es noch niemand. Würde es sich in den Kollisionsbildern der PETRA-Experimente bemerkbar machen, und wenn ja, wie?
Die Experimentatoren hofften beim Nachweis auf eine Ähnlichkeit der starken Kraft mit der elektromagnetischen: So wie ein Elektron in sogenannter Bremsstrahlung ein Photon, das elektromagnetische Kraftteilchen, ausstrahlen konnte, mutmaßten sie, könne ein Quark auch ein Gluon abstrahlen. Dieses müsste nach seiner Entstehung in einen Strahl von Teilchen – einen sogenannten Jet – zerfallen. Ausgelöst werden sollte diese Gluon-Bremsstrahlung in einem Event in einem PETRA-Detektor, in dem aus den kollidierenden Teilchen zwei Quarks entstehen, die nach Abstrahlung des Gluons ebenfalls in Jets zerfallen. Damit sollte eine Elektron-Positron-Kollision, in dem ein Gluon entsteht, drei deutlich getrennte Strahlen von Teilchen in den Detektor zeichnen. Aus Gründen von Energie- und Impulserhaltung müssten alle drei Strahlen in einer Ebene liegen. Die Jagd auf genau diese Signatur war jetzt eröffnet.
Am zuversichtlichsten bei ihrer Gluon-Jagd war wohl das Team der TASSO-Kollaboration, in der sich neben DESY die deutschen Universitäten Aachen, Bonn, Hamburg, das Imperial College, die Oxford University und das Rutherford Lab aus Großbritannien, das Weizmann-Institut aus Israel und die Universität Wisconsin aus USA engagierten.
Sau Lan Wu und Georg Zobernik von der Uni Wisconsin hatten ein sehr effizientes Analyseprogramm zur Auswertung der Kollisionen, bei denen Quarks entstehen, geschrieben und zudem ausgerechnet, dass die Entstehung von Gluonen durch Bremsstrahlung in PETRA ab einer Kollisionsenergie von etwa 22 GeV möglich sein sollte. Und schließlich, im Juni 1979, wenige Tage vor einer Konferenz in Bergen (Norwegen), fanden die TASSO-Forscherinnen und -Forscher in ihrem Event 13177 des Runs 447 das erste Ereignis mit drei eindeutigen Teilchenjets in ihren Daten. Quasi frisch analysiert nahm Bjørn Wiik es am 18. Juni mit auf die Konferenz „Neutrino 79“ nach Bergen und legte das Bild in seiner Präsentation „Erste Ergebnisse von PETRA“ als letzte Folie auf den Overheadprojektor. Es wurde die Folie mit dem größten Nachhall: Das Gluon hatte das Licht der (wissenschaftlichen) Welt erblickt.
Zwei Monate später auf der Lepton-Photon-Konferenz in Chicago konnten alle vier PETRA-Kollaborationen analysierte Ereignisse präsentieren, die die Drei-Jet-Signatur in einer Ebene aufwiesen. Gab es bis dahin noch Zweifel, ob es sich bei den bis dahin präsentierten Ereignissen um statistische Fluktuationen gehandelt haben könnte, war jetzt ein für alle Mal geklärt: Das Gluon, Vermittler der Starken Wechselwirkung, war im Sommer 1979 entdeckt worden.
1995 wurden die TASSO-Forscher Paul Söding, Bjørn Wiik, Günther Wolf und Sau Lan Wu für diese Entdeckung mit dem Hochenergie- und Teilchenphysikpreis der European Physical Society ausgezeichnet. Sie waren zusammen mit ihren Kollaborationsmitgliedern und den anderen Experimenten JADE, MARK J und PLUTO diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass das Drei-Jet-Ereignis für immer mit dem PETRA-Collider verbunden bleibt.
Nicht nur viele der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler legten nach dieser Entdeckung beeindruckende Karrieren hin, auch der PETRA-Beschleuniger sorgt noch heute für Furore: Nachdem er 15 Jahre lang ein Schattendasein als Vorbeschleuniger für den Elektron-Proton-Collider HERA führte, brilliert er seit 2009 als PETRA III, die hellste Speicherring-Röntgenlichtquelle der Welt.
Und das Gluon blieb ein besonderer Star in der Teilchenphysik: Insgesamt gibt es acht verschiedene dieser Kraftteilchen, die sich allerdings nur in ihrer Farbladung unterscheiden. Gluonen können selbst Gluonen aussenden (also quasi Nachkommen produzieren), oder zusammen mit anderen Gluonen Teilchen bilden - es ist also sehr gesellig. Mit der Quantenchromodynamik (QCD) ersannen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Formelwerk zur Beschreibung der von den Gluonen vermittelten starken Kraft. Es beschreibt in eindrucksvoller Genauigkeit die starken Wechselwirkungen und bis heute wichtige Grundlage zum Verständnis der Teilchenphysik insgesamt.