DESY News: Silizium zeigt Muskeln

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01.10.2020
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Silizium zeigt Muskeln

Natur inspiriert Material mit neuen Eigenschaften

Ein Hamburger Forschungsteam hat Silizium Muskelkraft verliehen. Mit dieser neuen Eigenschaft kann das Material erstmals elektrische Signale in mechanische Bewegungen umwandeln. An DESYs Röntgenquelle PETRA III konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter Leitung von Patrick Huber von der Technischen Universität Hamburg (TUHH) live die Bewegung der Siliziumatome verfolgen. Wie das Team im Fachblatt „Science Advances“ berichtet, bietet das neue Hybridmaterial völlig neue Perspektiven für die chipbasierte Technik von morgen.

Die Verteilung der künstlichen Muskeln (grün) im Silizium (rot) unter dem Elektrononenmikroskop. Bild: Brinker et al., Sci. Adv. 2020; 6 : eaba1483, CC BY 4.0 Linkhttps://dx.doi.org/10.1126/sciadv.aba1483
Ob Smartphone, Laptop, oder Smart Watch: Das chemische Element Silizium findet sich in jedem elektronischen Bauteil und noch so kleinen Computerchip. Damit aber beispielsweise der Lautsprecher in einem Smartphone funktioniert, bedarf es sogenannter aktorischer Materialien. Diese führen kleine Bewegungen im Mikrometer- und Nanometerbereich elektrisch und sehr präzise aus und bringen damit etwa Luft zum Schwingen. Bisher konnte Silizium derartige Funktionen nicht übernehmen.

„Um das zu ändern, ahmten wir auf künstliche Art und Weise das nach, was die Natur bereits in Biomaterialien wie Knochen oder Zähnen durch eine geschickte Kombination von weicher und harter Materie umsetzt“, sagt Huber. Dazu stattete sein Team kleinste Nanokanäle in hartem Silizium, die sich dort spontan in riesiger Zahl selbst bilden können, mit dem künstlichen, umweltfreundlichen und weichen Muskelpolymer Polypyrrol aus. „Uns ist es gelungen, dass sich diese Muskelmoleküle und damit das komplette Siliziumgerüst des Hybridmaterials unter elektrischer Spannung ausdehnen und anschließend wieder zusammenziehen“, erklärt der Physiker.

Besonders spannend an dem neuen Material ist, dass in einer wässrigen Umgebung nur sehr kleine elektrische Spannungen für die Aktuatorfunktion notwendig sind. Sie sind ähnlich groß – oder eigentlich klein – wie sie in vielen lebenden Systemen zur Reizleitung und zur Kontrolle von Bewegungen genutzt werden. „Dies macht das Hybridmaterial besonders vielversprechend für Anwendungen in biologischen oder biomedizinischen Systemen“, erläutert Manuel Brinker, der Erstautor der Studie, der zusammen mit Ko-Autor Guido Dittrich daran gearbeitet hat. Beide sind Doktoranden an der TU Hamburg.

Silizium (grau) mit in Nanoporen eingebetteten Muskelpolymeren (grün) zeigt als Funktion kleiner elektrischer Spannungen in wässriger Umgebung reversible Ausdehnung und Kontraktion. Bild: TU Hamburg
„Außerdem kommen nur biokompatible und in großen Mengen verfügbare Substanzen zum Einsatz“, sagt Ko-Autor und Doktorand am DESY-NanoLab Pirmin Lakner. „Vor allem keine umweltschädlichen Schwermetalle, insbesondere Blei, wie in vielen klassischen Aktuatormaterialien“, ergänzt DESY-Forscher Thomas Keller, ebenfalls Ko-Autor aus dem NanoLab. Im Rahmen der Kooperation mit den TU-Forschern haben beide die Aktorik der gleichen Muskelmoleküle auf planaren Siliziumoberflächen an DESYs Röntgenquelle PETRA III untersucht.

„Die Funktionsweise des neuen nanoporösen Hybridmaterials konnten wir erst anhand von Computersimulationen der Mikromechanik genauer verstehen. Nun können wir sie aber präzise vorausberechnen und somit Strategien vorschlagen, um sie für Anwendungen zu optimieren“, ergänzt Norbert Huber vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht für Küsten- und Materialforschung, der die Analyse der Muskelfunktion auf der Nanoskala geleitet hat. „Bei der mechanischen Funktionsanalyse halfen uns vor allem auch hochauflösende elektronenmikroskopische Bilder, die die kleinen Muskeln in den Hunderten von Milliarden Nanoporen pro Quadratzentimeter Fläche im Silizium sichtbar machten“, berichtet Huberts Doktorandin Claudia Richter. An dieser Analyse war auch Tobias Krekeler von der Betriebseinheit Elektronenmikroskopie der TU Hamburg beteiligt.

Mittlerweile konnten die Autoren an DESYs Röntgenmikroskop PETRA III sogar live verfolgen, wie sich, angetrieben durch die Muskelmoleküle, die Siliziumatome im Takt der kleinen elektrischen Spannungen hin und her bewegen und wie im Detail diese konzertierte Bewegung auf der Nanoskala erst die Deformation auf der Makroskala möglich macht.

Das neue Materialdesign ist ein Beispiel dafür, wie die besondere Physik auf der Nanoskala mit Selbstorganisationsprinzipien kombiniert werden kann, um einem klassischen Basismaterial von enormer technologischer Bedeutung eine völlig neue Funktion zu verleihen – eben Muskelkraft. Durch die Anwendung von Designprinzipien nach dem Vorbild der Natur sei ein neuartiges hybrides Basismaterial mit aktorischen Eigenschaften entwickelt worden, mit dem sich die Technik von morgen bioinspiriert und nachhaltig gestalten lasse, fasst Forschungsleiter Patrick Huber zusammen.

An der TU Hamburg werden neben Silizium mit Muskeln weitere neue Materialsysteme im Sonderforschungsbereich SFB 986 erforscht. Diese sind Teil des neu eingerichteten Center for Integrated Multiscale Materials Systems, kurz CIMMS, das von der Hamburger Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke im Januar 2020 mit knapp vier Millionen Euro auf insgesamt vier Jahre gefördert wurde. Dort leitet Patrick Huber die Arbeitsgruppe „Physik von funktioneller Materie und hochauflösende Röntgenanalytik von Materialien“ im Rahmen einer kooperativen Professur zwischen DESY und TU Hamburg mit Anbindung an das Centre for X-ray and Nanoscience (CXNS) bei DESY und das Zentrum für hybride Nanostrukturen (CHyN) der Universität Hamburg.

 

Originalveröffentlichung:
Giant electrochemical actuation in a nanoporous silicon-polypyrrole hybrid material; Manuel Brinker, Guido Dittrich, Claudia Richert, Pirmin Lakner, Tobias Krekeler, Thomas F. Keller, Norbert Huber, Patrick Huber; „Science Advances“, 2020; DOI: 10.1126/sciadv.aba1483

 

Quelle: Pressemitteilung der TU Hamburg