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13.12.2011
Higgs-Fahndung kommt wichtigen Schritt voran
Physiker am weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC sind bei der Jagd nach dem langgesuchten Higgs-Teilchen einen wichtigen Schritt vorangekommen. Die Teams der beiden großen Detektoren ATLAS und CMS haben das letzte mögliche Versteck des postulierten Elementarteilchens ein weiteres Stück eingeschränkt. Das ist das Ergebnis einer ersten Auswertung der gesamten Beobachtungsdaten aus dem Jahr 2011, die beide Gruppen am Dienstag in einem mit Spannung erwarteten Seminar am europäischen Teilchenforschungszentrum CERN bei Genf präsentierten, der Heimat des LHC. Die Forscher haben dafür rund 400 Billionen Teilchenkollisionen analysiert - das ist mehr als die hundertfache Datenmenge als noch vor einem Jahr.
Bei der Suche zeigten sich in beiden Detektoren spannende mögliche Anzeichen des Higgs-Teilchens, die allerdings noch keine Deutung zulassen. „Die Beobachtungen sind noch kompatibel mit einer statistischen Fluktuation des Untergrunds, aber auch mit dem, was man vom Higgs bei der gegenwärtigen Datenmenge erwarten würde“, erläutert der Forschungsdirektor für Teilchenphysik am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY, Prof. Joachim Mnich, der auch Mitglied des CMS-Teams ist.
Für sich genommen sind die beobachteten Abweichungen statistisch jeweils in etwa so signifikant wie zwei Sechsen hintereinander zu würfeln. Allerdings deuten mehrere unabhängige Messungen auf Abweichungen in demselben Massebereich um 125 Giga-Elektronenvolt (GeV; Milliarden Elektronenvolt). Physiker geben die Masse von Elementarteilchen häufig nach Albert Einsteins berühmter Formel E=mc2 als Energieäquivalent an, die übliche Einheit ist dabei das Elektronenvolt (eV).
Die Fahndung nach dem Higgs-Teilchen am LHC und an früheren Beschleunigern hat das Feld inzwischen bis auf einen schmalen Bereich zwischen 115 und 130 GeV abgegrast, der besonders schwer zu durchsuchen ist. "Wir wissen, dass sich das Higgs-Teilchen, wenn es denn existiert, in der hintersten, am schwersten zugänglichen Ecke versteckt", erläutert Mnich. "Das ist aber auch der Ort, wo wir es auf Grund indirekter Hinweise immer vermutet haben", ergänzt der Teilchenphysiker.
Für die Entdeckung eines neuen Teilchens gelten hohe Hürden in der Physik, da auch statistische Ausreißer ein solches Signal vorgaukeln können: Erst wenn mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als eins zu einer Million ausgeschlossen werden kann, dass es sich um eine zufällige Fluktuation handelt, gilt eine Beobachtung in der Teilchenphysik als Entdeckung. Mathematisch bedeutet das einen Ausschlag von fünf sogenannten Standardabweichungen und ist in etwa so wahrscheinlich wie acht Sechsen hintereinander zu würfeln.
Die Suche nach dem Higgs-Teilchen gehört zu den wichtigsten Aufgaben des LHC. Es gilt als letztes Puzzlestück im etablierten Standardmodell vom Aufbau der Materie, weil sich ohne den Higgs-Mechanismus in diesem Modell die Masse der Elementarteilchen nicht erklären lässt. Das DESY in Hamburg und Zeuthen ist am Betrieb und der Datenauswertung der LHC-Detektoren beteiligt und verfügt über Kontrollräume für den CMS- und den ATLAS-Detektor.
Für die Fahndung nach dem Higgs-Teilchen schießt der LHC nahezu lichtschnelle Wasserstoffkerne (Protonen) mit zuvor unerreichter Energie aufeinander. Aus der geballten Energie der Kollision entsteht ein Regen von Folgeteilchen. In weniger als einem Milliardstel der Fälle ist dem Standardmodell zufolge darunter auch ein Higgs-Teilchen. Das lässt sich jedoch nicht direkt nachweisen, sondern nur über seine Zerfallsprodukte. Da es je nach seiner Masse in ganz unterschiedliche andere Teilchen zerfallen kann, ist die Suche sehr aufwendig. "Wir suchen die sprichwörtliche Nadel nicht in einem, sondern in 100 000 Heuhaufen", betont DESY-Physiker Prof. Thomas Naumann aus dem ATLAS-Team.
Bis Ende 2012 erwarten die Physiker Klarheit darüber, ob das Higgs-Teilchen wie nach dem Standardmodell erwartet existiert.
Fragen und Antworten zum Higgs-Teilchen
Was ist das Higgs-Teilchen und was macht es?
Das Higgs-Teilchen ist nach dem inzwischen emeritierten schottischen Physiker Peter Higgs benannt. Er und andere Physiker ersannen 1964 einen Trick, der eine fundamentale Schwäche des ansonsten überragend erfolgreichen Standardmodells vom Aufbau der Materie ausbügeln sollte: Das über Jahrzehnte errichtete Theoriegebäude erlaubt nur masselose Austauschteilchen wie das Photon. Um auch massereiche Austauschteilchen wie die W- und Z-Bosonen der schwachen Wechselwirkung beschreiben zu können, führte Peter Higgs das nach ihm benannte Feld ein. Das Higgs-Feld durchzieht demnach das Universum wie ein Sirup, wechselwirkt unterschiedlich stark mit den Elementarteilchen, bremst sie und verleiht ihnen so ihre Masse. So wie das Photon eine Anregung des elektromagnetischen Feldes ist, sind die gesuchten Higgs-Teilchen Anregungen des Higgs-Feldes – quasi Klumpen im Sirup.
Warum ist es so wichtig?
Ohne den Higgs-Mechanismus kann das Standardmodell vom Aufbau der Materie die eindeutig zu beobachtende Masse mancher Elementarteilchen nicht erklären. Das gesamte Theoriegebäude stünde auf der Kippe, falls das Higgs-Teilchen nicht existieren sollte. "Das Higgs-Teilchen ist sozusagen der Schlussstein des Standardmodells", erläutert DESY-Physiker Prof. Thomas Naumann aus dem ATLAS-Team. "Wenn ich den herausziehe, bricht das ganze Gebäude zusammen."
Wie lässt sich das Higgs-Teilchen beobachten?
Das Higgs-Teilchen lässt sich nicht direkt beobachten, sondern nur über seine Zerfallsprodukte identifizieren. Dabei sind zahlreiche Optionen möglich, die auch von der Masse des Higgs-Bosons abhängen. So kann es etwa in zwei sogenannte Z-Teilchen zerfallen, die wiederum jeweils in zwei Elektronen oder Myonen zerfallen. Ein solches Ereignis mit diesen vier Teilchen gilt als eine charakteristische Signatur des Higgs-Teilchens, ist aber extrem selten: Unter den mehreren hundert Billionen Kollisionen hat etwa der ATLAS-Detektor nur rund 70 solcher Ereignisse registriert.
Wenn das Higgs-Teilchen gefunden wird, können wir den LHC dann abschalten?
Nein, die Forschung geht dann erst richtig los. Es gilt dann, seine genauen Eigenschaften zu erkunden, um die Natur besser verstehen zu können. Außerdem würde das Higgs-Teilchen eine Richtung weisen, in der die Physik jenseits des Standardmodells weitergehen könnte. Denn die Theorie beschreibt nur etwa vier Prozent des Universums - nämlich die sichtbare, uns vertraute Materie, aus der Sterne, Planeten, Bäume und Menschen bestehen. Mindestens fünf Mal so häufig ist im Weltall jedoch eine bislang unerforschte Dunkle Materie, die unsichtbar ist und sich lediglich über ihre Schwerkraft verrät. Und der Hauptinhalt des Kosmos ist eine rätselhafte Dunkle Energie, die das Weltall beständig auseinandertreibt. Auch zu diesem Dunklen Universum soll der LHC ein Fenster öffnen. Darüber hinaus hat der Beschleuniger noch weitere Aufgaben.
Was bedeutet es, wenn das Higgs nicht gefunden werden sollte?
Dann müsste das Standardmodell vom Aufbau der Materie grundlegend überdacht werden. Auf den Alltag hätte das keinerlei Auswirkungen. Die Natur würde jedoch in manchen Aspekten offensichtlich ganz anders funktionieren als bislang gedacht. Auch alternative Erklärungsansätze lassen sich mit dem LHC überprüfen. Würde am LHC kein Higgs-Teilchen gefunden, wäre das sogar die Entdeckung mit der größeren wissenschaftlichen Tragweite. Bedeutende Ergebnisse sind also nahezu garantiert! "Der Fund des Higgs-Teilchens wäre eine Entdeckung, sein Ausschluss wäre jedoch eine Revolution", betont der Forschungsdirektor für Teilchenphysik am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY, Prof. Joachim Mnich, der auch Mitglied des CMS-Teams ist.
Weitere Informationen auf den deutschen LHC-Seiten: http://www.weltmaschine.de/physik/e170