05.06.2013

Zurück in die Zukunft mit HERA

Charm-Quarks als Wegweiser für die Forschung am LHC

15 Jahre lang war DESYs Teilchenbeschleuniger HERA als weltweit präzisestes Elektronenmikroskop für die Untersuchung der inneren Struktur des Protons in Betrieb. 2007 wurden die HERA-Experimente beendet, aber die Datenanalyse dauert an und dient immer noch als Wegweiser für zukünftige Teilchenphysik-Experimente.

Beispiel eines „Charm-Ereignisses“ im ZEUS-Detektor. Die farbigen Linien sind Teilchenspuren aus einer Positron-Proton-Kollision bei HERA. Die roten und grauen Spuren sind Fragmente eines Charm-Teilchens. Die roten Rechtecke zeigen den Energieverlust der Kollisionsfragmente im Detektor. Von 1992 bis 2007 kollidierten in DESYs Beschleuniger HERA Elektronen und Protonen zur Erforschung der inneren Struktur des Protons.

Wissenschaftler der HERA-Experimente H1 und ZEUS haben etwa eine Milliarde HERA-Kollisionsereignisse durchforstet und konnten so die „optimale Masse“ des Charm-Quarks bestimmen, eines Elementarteilchens. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sie mit Hilfe dieser Masse wesentlich präzisere Vorhersagen von Kollisionsereignissen am weltstärksten Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider LHC am CERN machen können. Die Studie ist im "European Physical Journal C" veröffentlicht und eines der Highlights in DESYs aktuellem Jahresbericht des Forschungsbereichs Teilchenphysik.

Aufschlussreiche  Feuerbälle

Protonenstrahlen rasen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch den LHC-Beschleuniger. Wenn sie aufeinanderprallen, entlädt sich ihre Energie in Feuerbällen – Teilchen-Trümmer, die im Detektor nachweisbar sind. Ähnlich wie bei einem Puzzle, das aus vielen Teilen zusammengesetzt wird, analysieren die Forscher die Kollisionsergebnisse, um Erkenntnisse über die Eigenschaften der elementaren Teilchen und Kräfte im Universum zu bekommen.

Die Lösung dieses Teilchenkollisionspuzzles ist nicht trivial. Protonen haben eine komplexe innere Struktur, und so entstehen aus den Feuerbällen eine Menge verschiedener stabiler und instabiler Teilchen. „Wenn wir jedoch die Zusammensetzung des Protons kennen, so können wir die Wahrscheinlichkeit verschiedener Kollisionsereignisse bestimmen“, sagt Stefan Schmitt, DESY-Wissenschaftler und Sprecher des H1-Experiments.

Forschung an HERA hat die bisher präziseste Beschreibung der Struktur des Protons geliefert. Das Proton besteht aus verschiedenen Komponenten, den Partonen. Unter diesen sind drei Valenzquarks, die von Gluonen zusammengehalten werden, den Austauschteilchen der starken Wechselwirkung. Außerdem entstehen und verschwinden immer wieder sogenannte Seequarks im Inneren des Protons. „HERA war so etwas wie eine Lupe für Protonen“, sagt Schmitt. „Wir konnten damit Partonen sehen und ihre Verteilung innerhalb des Protons bestimmen.“ Forscher bezeichnen diese Verteilung als Parton-Dichte-Funktion, und sie machen damit Vorhersagen für Proton-Proton-Kollisionsereignisse, so auch am LHC.

Eines der ersten wichtigen LHC-Forschungsziele ist die Identifizierung und Beschreibung des Higgs-Bosons – eines Elementarteilchens, dessen Existenz erklärt, wie andere Teilchen zu ihrer Masse kommen. Eine von verschiedenen Methoden, um ein Higgs-Boson zu produzieren, ist die Fusion von zwei W- oder Z-Bosonen, die bei Proton-Proton-Kollisionen im LHC entstehen. „Mit den Daten von HERA können wir genaue Vorhersagen für die Produktion von W- und Z-Bosonen am LHC machen und erwarten, in ähnlicher Weise zum genauen Verständnis des Higgs-Mechanismus beitragen zu können“, sagt Schmitt.

Das Charm im Proton

Es hat sich herausgestellt, dass das Charm-Quark, ein Seequark, das bei HERA in großer Menge produziert wurde, einen großen Einfluss auf die Vorhersagen der Forscher hat. „Bei einer vor kurzem erstellten Analyse haben wir alle verfügbaren H1- und ZEUS-Daten kombiniert, und so konnten wir noch genauer als bisher bestimmen, wie häufig und welche Anzahl Charm-Quarks bei HERA erzeugt wurden“, erklärt Achim Geiser, Leiter der ZEUS-Gruppe bei DESY. „Aus diesen Daten haben wir die Masse des Charm-Quarks berechnet und ihren Einfluss auf die Parton-Dichte-Funktion für eine Reihe von theoretischen Ansätzen.“

Wissenschaftler können Charm-Quarks nicht einfach auf die Waage legen, sie müssen über einen theoretischen Ansatz die Masse der Quarks aus den Quark-Produktionsdaten ermitteln. Je nach dem für die Berechnung benutzten Ansatz erhält man eine leicht abweichende Masse für das Charm-Quark. Diese Masseunsicherheit führt zu Unterschieden in der Parton-Dichte-Funktion und somit zu einer erheblichen Unsicherheit für die Vorhersage der W- und Z-Erzeugung am LHC.

Wurde die gleiche Charm-Quark-Masse für jeden Ansatz verwendet, gab es bei den Vorhersagen Schwankungen um etwa sechs Prozent. Um nun die Genauigkeit der Vorhersagen zu erhöhen, haben die Wissenschaftler die kombinierten H1- und ZEUS-Daten mit Hilfe von verschiedenen theoretischen Ansätzen angepasst und jeweils eine optimale Charm-Quark-Masse bestimmt. Eine optimale Masse im System entspricht der besten Anpassung.

Verbesserte Vorhersagen

Mit HERAs optimalen Charm-Quark-Massen konnten die Wissenschaftler die entsprechende Unsicherheit in ihren Vorhersagen um mehr als den Faktor drei reduzieren. Tatsächlich wurden ihre Vorhersagen praktisch unabhängig von dem theoretischen Ansatz. „Dass die von uns gemessene Charm-Masse, wie von uns quantifiziert, einen so großen Einfluss auf die W- und Z-Produktion hat, haben wir nicht erwartet“, betont Geiser.

Die Forscher werden auch zukünftig die HERA-Daten benutzen, um ihre Vorhersagen für LHC-Ereignisse zu verbessern. „Das bessere Verständnis des Protons wird auch zu Einschränkungen bei anderen Prozessen führen, darunter auch die Produktion von Top-Quarks und Higgs-Bosonen“, sagt Geiser. HERAs Vergangenheit wird weiterhin Wegweiser sein für die Zukunft der Teilchenphysikforschung.

Die hier diskutierten Ergebnisse zur genauen Vermessung der Charm-Quark-Produktion bei HERA sowie der Zusammenhang mit den LHC-Vorhersagen wurden zu großen Teilen von Katerina Lipka und ihrer Arbeitsgruppe bei DESY erarbeitet und von der Helmholtz-Gemeinschaft gefördert (VH-NG-401).

 

Originalveröffentlichung

The H1 and ZEUS Collaborations, Combination and QCD analysis of charm production cross section measurements in deep-inelastic ep scattering at HERA, Eur. Phys. J. C (2013) 73:2311, DOI: 10.1140/epjc/s10052-013-2311-3.