2.12.2025 PETRA IV

Zoom ins Denken

Wie PETRA IV das Gehirn neu kartiert

Dank des Synchrotrons PETRA III bei DESY ist es heute schon möglich, die zelluläre Architektur des menschlichen Gehirns mit Röntgenlicht hochaufgelöst und dreidimensional darzustellen. Mit dem geplanten Synchrotron PETRA IV können darüber hinaus nicht nur Neuronen, sondern auch ihre Verbindungen und Kontaktstellen – die Synapsen – und damit das gesamte neuronale Netzwerk kartiert werden. 

Ein Team um den Physiker Tim Salditt von der Universität Göttingen nutzt an PETRA III eine spezielle Technik, die Phasenkontrast-Tomographie, um Gewebeproben aus dem menschlichen Gehirn zu untersuchen.

Die Anwendungsmöglichkeiten dieser Technik sind vielfältig: von Forschungsfragen zu neurodegenerativen Erkrankungen über Studien des Hippocampus und des Hirncortex bis hin zu Aufbau und Funktionsweise des Kleinhirns auf Ebene der Zellen.

Ein Forscher steht eingerahmt von einem komplexen technischen Aufbau an der Experimentierstation und lächelt zufrieden in die Kamera.
Prof. Dr. Tim Salditt von der Universität Göttingen untersucht das menschliche Gehirn an DESYs Ringbeschleuniger PETRA. Foto: DESY, Daniel Reinhardt

Das Kleinhirn ist beispielsweise eine Hirnregion mit extrem hoher Dichte an Nervenzellen (Neuronen). Es übernimmt viele komplexe Funktionen.
Unter anderem koordiniert das Kleinhirn Bewegungen, stellt Gleichgewicht her, ist für die Feinabstimmung der Motorik zuständig und erlernt automatisierte Bewegungsabläufe – damit ist es für den aufrechten Gang des Menschen entscheidend. „Wir wissen aber nicht, wie exakt die Neuronen zueinander liegen, in welcher Beziehung sie stehen und wie sich die dreidimensionale Architektur bei bestimmten Erkrankungen verändert“, sagt Salditt. Bisher lässt sich das im optischen Mikroskop anhand von histologischen Gewebeschnitten nur zweidimensional untersuchen. Außerdem reicht dabei die Auflösung nicht aus, um jede Zelle oder gar feine Strukturen in der Zelle zu identifizieren. Synchrotronstrahlung dagegen erlaubt, in die Tiefe des Gewebes zu schauen, wo dies mit anderen mikroskopischen Verfahren – wie Elektronenmikroskopie – unmöglich ist.

Ganze Hirnregionen werden mit brillantem Röntgenlicht dreidimensional und mit hoher Auflösung abgebildet.

Das Team von Tim Salditt konnte auf diese Weise an PETRA III rund 1,8 Millionen Nervenzellen genau vermessen – in einem winzigen Gewebe-Würfel von nur einem Kubikmillimeter. Solche kartierten Daten werden in digitalen Atlanten des Gehirns gesammelt, mit denen andere Wissenschaftler:innen Simulationen und Studien durchführen können. Die Änderung der neuronalen Architektur bei der Alzheimer’schen Erkrankung oder bei Multipler Sklerose hat das Team in enger Zusammenarbeit mit Medizinern und Medizinerinnen untersucht. Präzise Einblicke in andere Organe sind auch möglich: So wurden im Herz und in der Lunge Schäden der Blutgefäße bei Covid-19 dargestellt.

Aktuell arbeitet Tim Salditt an PETRA III mit Pixelgrößen zwischen 50 Nanometern und knapp über 500 Nanometern. PETRA IV soll scharfe Abbildungen selbst bei 10 Nanometern erzeugen und damit völlig neue Erkenntnisse fördern. Zur Veranschaulichung der Größenverhältnisse ein Vergleich: Der Durchmesser eines menschlichen Haars liegt bei etwa 50 000 bis 100 000 Nanometern.

„PETRA IV kann man als riesiges und unglaublich vielseitiges analytisches Werkzeug ansehen, das ermöglicht, was heute noch Zukunftsmusik ist: nicht nur für die biomedizinische Forschung und die Neurowissenschaften, auch für die Materialforschung, die Analyse von Umweltproben oder gar von Kulturgütern. PETRA IV wird ein wichtiges Werkzeug zur Entwicklung neuer Technologien in Deutschland und Europa.“
Prof. Dr. Tim Salditt Georg-August-Universität Göttingen

PETRA IV soll eine hundertfach brillantere Synchrotronstrahlung als PETRA III liefern und damit das Wissen über gesunde sowie von Erkrankung betroffene Gewebe verfeinern helfen. Proben von lebenswichtigen Organen wird PETRA IV in deutlich höherer Bildschärfe, dreidimensional und auch zeitlich aufgelöst abbilden. 
Die biomedizinische Forschung wird mit dem modernisierten Teilchenbeschleuniger PETRA erhebliche Fortschritte erzielen – insbesondere, wenn es um das Gehirn geht. 

Ein noch besseres Röntgenmikroskop wie PETRA IV wird die Bildgebung revolutionieren.

Tim Salditt erklärt: „Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie das Gehirn funktioniert, reicht es nicht, nur einzelnen Nervensignalen zu folgen oder zu schauen, wie einzelne Zellen miteinander reden. Wir müssen genau erkennen können, wie ein Neuron mit allen anderen vernetzt ist – quasi das komplette Schaltbild des Gehirns mit allen Verbindungen, also auch den Synapsen, in superhoher Auflösung.“ 

Das Ziel ist, dass man ins Gehirn „hineinzoomen“ kann, um einzelne Details genau zu sehen, aber auch wieder „rauszoomen“, um das große Ganze zu erfassen – so ähnlich wie bei Online-Kartendiensten. Bis jetzt ist das nur in winzig kleinen Bereichen möglich. PETRA IV soll es erlauben, viel größere Teile des Gehirns auf diese Weise abzubilden und zu untersuchen.

Besonders wichtig ist auch die Geschwindigkeit beim Experimentieren: Während an PETRA III große Proben über Stunden oder Tage in Bearbeitung sind, wird derselbe Vorgang an PETRA IV in wenigen Minuten abgeschlossen sein. So lassen sich statt nur zehn gleich hunderte oder tausende Proben automatisch untersuchen und werden zudem schneller ausgewertet. Das bringt die Forschung von Einzelfällen zu verlässlichen, statistisch aussagekräftigen Ergebnissen.

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