Auf die Größe kommt es an – zumindest bei Funktionswerkstoffen
Forschungsteam beobachtet eigenartige Abweichungen bei der Phasenumwandlung von Mikrostrukturen
Eine von DESY-Wissenschaftlern geleitete Kollaboration hat an DESYs hochbrillanter Röntgenquelle PETRA III ein überraschendes Verhalten des Quantenmaterials Vanadiumdioxid (VO2) aufgedeckt. Vanadiumdioxid ist in der Lage, sich von einem Isolator in ein leitfähiges Metall zu verwandeln, und das bei einer sehr „lebensnahen“ Temperatur von etwa 70°C. Es steht deshalb als mögliches Material für funktionale Bauteile im Fokus der Forschenden. Gemeinsam mit Kollegen der Universität Kiel, des Helmholtz-Zentrums Berlin sowie des Paul-Scherrer-Instituts in der Schweiz untersuchten die Wissenschaftler mithilfe der Röntgenmikrospektroskopie die Strukturen von dünnen Vanadiumdioxidschichten im Detail. Dabei zeigte sich, dass die Übergangstemperatur, bei der das Material leitend wird, in den 30 mal 30 Mikrometer großen Quadraten nicht überall exakt gleich ist: Die Ränder werden im Vergleich zu den Zentren bei einer Temperatur leitend, die um rund 1,2 Grad Celsius niedriger ist.

Da die Isolator-Metall-Übergangstemperatur von Vanadiumdioxid im Vergleich zu den Übergangstemperaturen anderer Quantenmaterialien vergleichsweise nahe an der Raumtemperatur liegt, ist dieses Material ein vielversprechender Kandidat für künftige IT-Anwendungen in maßgeschneiderten funktionalen Geräten. So wurde VO2 beispielsweise schon in neuartigen Transistoren eingesetzt, die das Verhalten des menschlichen Gehirns nachahmen. Das Material könnte beispielsweise auch als transparente Fensterabdeckung dienen, die sich bei hohen Temperaturen in einen dunklen Film verwandelt und das Sonnenlicht blockiert. „Will man diese Materialien allerdings in mikroelektronischen Geräten in nur winzigen Mengen einsetzen, muss man mit einem unterschiedlichen Verhalten bei verschiedenen Volumengrößen und Geometrien rechnen. Daher brauchen wir sorgfältige Untersuchungen solcher Größeneffekte mit geeigneten Versuchsaufbauten", sagt Jan Schunck, Doktorand bei DESY und Erstautor der Studie.

Röntgenstrahlen sind ein ideales Werkzeug, um die elektronischen Veränderungen in VO2 zu messen, die durch den Übergang hervorgerufen werden. Das Forscherteam, das von DESY-Wissenschaftler Martin Beye koordiniert wurde, nutzte für ihre Messungen einen Aufbau, der um eine sogenannte Transmissions-Zonenplatte an der PETRA III-Strahlführung P04 aufgebaut ist. Diese Zonenplatte, die wie eine Fresnellinse für Röntgenstrahlen arbeitet, wurde in Kombination mit dem Messverfahren der Röntgenabsorptionsspektroskopie eingesetzt, um den Zustand der VO2-Strukturen zu verfolgen. Weil Zonenplatten auch wie Röntgenlinsen wirken, können in dem Experiment Strukturen aufgelöst werden, die kleiner als 2 Mikrometer sind. Dies erlaubt es, Messdaten aus Rand- und Mittelbereichen der VO2-Mikroquadrate getrennt zu analysieren.

Martin Beye blickt in die Zukunft: „Mit verbesserter räumlicher Auflösung und in Kombination mit der hohen Brillanz von PETRA IV werden wir in Zukunft Studien durchführen können, die Größeneffekte in mikroskopischen Funktionsmaterialien und vielleicht sogar in kleinen Geräten unter in operando-Bedingungen charakterisieren. Wir könnten zum Beispiel einen VO2-basierten Transistor in Aktion beobachten.“
Originalveröffentlichung
Schunck, J. O. et al. Microstructure effects on the phase transition behavior of a prototypical quantum material. Sci. Rep. 12, 10464 (2022), DOI: 10.1038/s41598-022-13872-0